Egbert Scheunemann: Von der Natur des Denkens und der Sprache. Fragmente zur Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie und physikalisch-biologischen Wirklichkeit
In einem herrschaftsfreien Diskurs, in dem Wahrheit allein bestimmt
(bestimmt...) werden sollte, darf nichts anderes gelten als der
eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Argumentes. Habermas, der
die Diskurstheorie der Wahrheit maßgeblich entwickelte, hat in seinem
umfangreichen Werk aber keinen Hinweis darauf gegeben, was dieser eigentümlich
zwanglose Zwang nun eigentlich ist. Was zwingt uns,
gewissen schlüssigen Argumentationen – vom einfachen logischen Schluß
oder komplexen mathematischen Beweis bis hin zu Begründungen bestimmter
sozialer Basisregeln – zuzustimmen?
In dieser Arbeit wird der Versuch unternommen, über den
sprachphilosophischen Argumentationskontext hinauszugehen, der sich, so
die These, in gewisser Weise nur noch um sich selbst dreht (Stichwort:
Sprache ist, nach dem berühmten linguistic turn der Philosophie,
quasi ‚alles’). In den humanwissenschaftlich orientierten Naturwissenschaften
– und hier vor allem in den Neurowissenschaften – wird nach möglichen
Antworten gesucht auf Fragen, die im rein sprachphilosophischen Kontext
noch immer und ohne jedes absehbare Ende diskutiert werden: Ist Sprache
wirklich ‚alles’? Gibt es ein vorsprachliches Denken? Wie ist der Zusammenhang
zwischen Sprachstrukturen (Gesetze der Grammatik und der Logik) und Wirklichkeitsstrukturen
(Naturgesetze) zu interpretieren? Wie beeinflussen die biologischen Grundlagen
unseres Denkens und Sprechens – dieses Denken und Sprechen? Bestimmt unsere
je verschiedene Sprache unser (damit je verschiedenes und also provinzielles)
Weltbild – oder bestimmen die natürliche und soziale Welt sowie eben
unsere biologische Befindlichkeit umgekehrt unser (sprachlich verfasstes)
Weltbild? Gilt der relativistische Kulturkontextualismus eines Richard
Rorty – oder eben der universalistische Ansatz eines Jürgen Habermas?
Der Blick auf die biologischen Grundlagen unseres Denkens und
Sprechens ist jedoch nur der eine Ansatz dieser Arbeit. Es wird zudem gefragt,
ob der Kontext Sprache-Denken-Wirklichkeit nicht auch durch eine Reflexion
auf die extremsten Anwendungen sprachlicher Mittel auf die physische Wirklichkeit
näher geklärt werden kann: Warum können wir durch Transformationen
in (formalisierten) Symbolsystemen (also etwa mit den Gleichungen der theoretischen
Physik) physische Realität, die uns sinnlich nicht immer direkt gegeben
ist (im ganz Kleinen wie im ganz Gossen), oft, wie theoretisch angeleitete
praktische Experimente immer wieder zeigen, voraussagen bzw. mathematisch
‚vorschreiben’? Um nur ein berühmtes Beispiel zu nennen: Die
Existenz des Neptun wurde aufgrund von Bahnabweichungen des Uranus vorausberechnet!
Erst danach wurde er physisch entdeckt! Ist also der sprachlogische Zwang
analog dem kausalen Zwang in der Natur? Was bedeutet das? Ist dann alles
möglich und physisch machbar, was nur logisch stringent entwickelt
wurde? Und ist eine Metasprache denkbar, die uns sagt, bis wann wir mit
unseren Symboltransformationen – von mathematischen Beweisen bis hin zu
physikalischen oder sozialen Theorien – noch im Bereich physischer oder
sozialer Rückübersetzbarkeit sind – und ab wann nicht mehr? Als
kleines ‚Nebenprodukt’ der Befragung der Naturwissenschaften aus sprachphilosophischer
Perspektive ergab sich übrigens die erstaunliche Tatsache, dass man
bestimmte allgemein anerkannte Thesen bestimmter allgemein anerkannter
naturwissenschaftlicher Großtheorien (Quantentheorie, Spezielle und
Allgemeine Relativitätstheorie) völlig konträr interpretieren
kann. Oft sieht man von außen manches besser...
Diese Arbeit begreift sich schließlich als ein Beitrag,
durch Aufdeckung der biologischen und (evolutions-)rationalen Grundlagen
unseres Denkens und Sprechens das Projekt Humanismus und Aufklärung
in einer Zeit zu verteidigen, in der es in starke Bedrängnis geraten
ist durch bestimmte gegenaufklärerische soziokulturelle Entwicklungen
(konservativ-neoliberaler politischer Rollback, religiöser Fundamentalismus,
Esoterikbewegung, postmodernes moralisches und epistemisches Allerlei u.a.).
Insofern
man das Projekt Humanismus und Aufklärung mit dem Projekt
der Moderne identifizieren möchte, droht also reihum der Rückfall
in vormoderne mentale Strukturen – jenseits aller postmodernen Verheißungen.
Die Menschheit steckt nach wie vor und mehr denn je in ihrer Adolenszenskrise
(Habermas). Und wir erinnert uns: Adoleszente sind, wie sagt der Volkesmund,
(geistig) Halbstarke, also (noch) Unmündige – Unmündige, die
der ‚Vormünder’ (Götter, Gurus, Führer, Idole etc.) noch
bedürfen. Die Welt sieht – diese Zeilen werden nach dem 11. September
2001 geschrieben – entsprechend aus.